Es ist jetzt genau zwei Tage her, seit ich auf GMX.de/Web.de einen Artikel über den Ursprung der Arten gelesen habe. Ein deutsch-amerikanisches Forscherteam hatte laut des Artikels herausgefunden, das sich höhere und niedere Lebensformen bereits sehr viel früher voneinander getrennt hatten als bisher angenommen... Und dass damit die niederen Lebensformen nicht zu unseren Vorfahren gezählt werden können.
Soweit, so gut. Alles an sich ist das eine wertfreie Aussage einer schlichten wissenschaftlichen Arbeit. Sie sagt eigentlich nur zwei Dinge aus: Die Existenz von niederem und höherem Leben, wobei dieses durch Komplexität getrennt ist, und einen gemeinsamen Vorfahren. Ging man bisher davon aus, die höheren komplexeren Arten würden direkt auf dem "niederen" Leben basieren, sagen die deutsch-amerikanischen Forscher lediglich, dass es einen gemeinsamen Vorfahren gibt, also die Abspaltung früher erfolgte. Was in diesen Erdzeitaltern schon ein paar Millionen Jahre ausmacht.
Warum schreibe ich darüber? Nun, weil ich die Kreationisten schon hören kann, wie sie voller Hohn darauf hinweisen, pochen und rufen: Das haben wir doch gleich gesagt.
Was sind Kreationisten? Es gibt verschiedene Untergruppen von ihnen. Einige behaupten, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums, andere denken an eine sphärische Existenz der Erde, in der Sonne, Mond und Sterne am Horizont quasi befestigt sind, einige vertreten auch das Scheibenweltprinzip... Die meisten jedoch denken in etwas weniger kleingeistigen Maßstäben und sagen schlicht, die Erde sei erst rund zehntausend Jahre alt, und Gott hätte alle Arten so wie sie heute sind, erschaffen.
Als Beweis für ihre Thesen führen sie sehr gerne das Auge an, das ihrer Meinung nach zu komplex aufgebaut ist, um natürlich entstanden sein zu können. Das arme Auge. Bis es den Punkt erreichte, dessen Nutznießer wir Menschen heute sind, hatte es einen weiten Weg zu gehen, der mehrere hundert Millionen Jahre in die Vergangenheit zurückreicht und unter primitivsten Bedingungen begann, beim schlichten Unterscheiden zwischen hell und dunkel.
Auch der Mensch wird zu gerne als Beispiel als Ganzes gesehen, der ja nach der Bibel nach Gottes Ebenbild erschaffen wurde. Ein derart komplexer Organismus soll sich durch Zufall entwickelt haben? Unmöglich. Und in der Bibel steht es ja auch so.
Was ist denn, fragen Kritiker die sich ernsthaft damit auseinander setzen, mit dem Grand Canyon? Der ist mehrere Millionen Jahre alt!
Antwort: Durch die Sintflut entstanden.
So geht es dann auch nahtlos weiter. Karbon-Analyse zur Datierung von Fossilien?
Ist von Menschen erschaffen worden und deshalb mit Fehlern behaftet, kann also nicht funktionieren.
Bestimmung geologischer Proben?
Gott hat die Erde extra so gemacht, damit die Geologen glauben, die Erde wäre sehr viel älter.
Dinosaurierknochen?
Die Biester haben nie wirklich gelebt. Auch die hat Gott in die Erde gelegt...
Und so weiter, und so fort. Eine sehr ermüdende Form der Diskussion, vor allem bei rechthaberischen Menschen, die uneinsichtig sind und sich auf jeden vermeintlichen Fehler stürzen, um ihren eigenen Standpunkt zu stützen. So auch in diesem Fall: Haha, sogar die Wissenschaft sagt, wir stammen nicht von den niederen Arten ab!
Das hat das deutsch-amerikanische Forscherteam zwar nie gesagt, sondern lediglich die Abspaltung vordatiert (was auch erst noch bewiesen werden muss), und außerdem pinkeln sich die Kreationisten damit ans eigene Bein weil sie mit dieser Argumentation die Evolution indirekt anerkennen, aber wenn sie diesen Fakt nur fest genug verdrängen wird er für die gottlosen Wissenschaftler schon zum Stolperstein, und zur Rettung der armen, in die Irre geführten Menschenseelen ist es nur noch ein kleiner Schritt.
Ihr seht also, der fanatische Aspekt des Kreationismus ist ein Problem, vor allem wenn man sich vor Augen führt, dass es in Amerika gestattet wurde, die Evolutionslehre und die Lehre vom Intelligenten Design parallel lehren zu dürfen, wenn das Intelligente Design nicht gleich einzige Lehrmeinung wurde. (Intelligentes Design bezieht sich auf den Kreationismus und behauptet, alles ist durchdacht und kalkuliert direkt von Gott erschaffen worden, es gibt und gab keinen Wettkampf zwischen den Arten, und alle die es behaupten sind auf dem Holzweg.)
Zum besseren Verständnis meiner Ungläubigkeit und meines Entsetzens diesem Thema gegenüber möchte ich zwei Geschichten zum Besten geben. Eine habe ich wirklich erlebt, die andere im Fernsehen gesehen.
Geschichte eins: Seit ein paar Jahren bin ich auf der größten deutschen Anime-Community Animexx.info angemeldet. Dort war ich bereits in mehreren so genannten Zirkeln tätig und habe vielfältige Menschen kennen gelernt. In einem Zirkel, in dem vielerlei Themen erörtert werden können, stieß ich dann tatsächlich auf eine Diskussion zur Entstehung der Arten, an der sich eine deutsche Anhängerin des Intelligenten Designs beteiligt hat. Nun, was soll ich sagen, die junge Dame war "präpariert worden", oder um es verständlicher auszudrücken, ihr waren jede Menge Argumente in die Hand gegeben worden, die wissenschaftlich belegbar klingen.
Nun beginnt mein Dilemma. Besagte junge Dame behauptete in dem Thread, die Evolution hätte so gar nicht statt finden können, weil es die sogenannte Ursuppe gar nicht gegeben hat. Experimente hätten gezeigt, dass man diese Ursuppe, also jenen Pool aus primitiven Aminosäuren, Wasser und ultraviolettem Licht gar nicht dazu bringen konnte, primitives Leben zu erschaffen. Zu meiner eigenen Unrühmlichkeit muss ich sagen, ich bin darauf rein gefallen. Oh, ich habe den Standpunkt der Evolution verteidigt, habe Erklärungen gefunden, ihren Standpunkt nachhaltig erschüttert, aber nicht einhundert Prozent widerlegen können. Aufgegeben habe ich nie und zumindest ein Patt erzielt. Jetzt, ein Jahr später, stieß ich zufällig auf einen Artikel, der die wissenschaftliche Erstellung der Ursuppe zu Studienzwecken behandelte. Dort wurde das - übrigens jedes Mal höchst erfolgreiche - Experiment nicht nur beschrieben, sondern als Standardversuch für Studenten im ersten Semester beschrieben.
Fakt ist also: Die junge Dame hatte die Argumente in die Hand bekommen um Menschen mit wenig Hintergrundwissen in die Ecke zu treiben. Mit einem Wort: Mich.
Das ist ihr auch gelungen. Hätte ich damals schon zu diesem Vorwurf recherchiert anstatt ihre Worte für bahre Münze zu nehmen, hätte ich schon damals dieses unsägliche Argument entkräften können. Aber genau in diesem Moment bin ich sicher, dass sie darauf geantwortet hätte: "Das sind doch nur Behauptungen! Solange ich bei einem solchen Experiment nicht selbst dabei bin und sehen kann, dass es funktioniert, bleibt das Quatsch." Damit hätte sie wahrscheinlich sogar richtig gehandelt, aber das ändert nichts daran, dass zehntausende Physik- und Chemie-Studenten sie jedes Jahr auf Neue widerlegen. Dennoch wäre sie in diesem Punkt uneinsichtig geblieben, weil sie glauben will, was sie glaubt. Das unterscheidet sie von rationalen Menschen wie mir. Man entschuldige diese Wortwahl, sie ist nicht zur Selbstbeweihräucherung gedacht, sondern zur Differenzierung.
Kommen wir zur zweiten Geschichte. Ein bekannter deutsche Neonazi fährt nach Auschwitz. Was will er da? Ärger machen und den Holocaust leugnen. Jenes Lager, welches ein halbes Jahr vor Kriegsende von der Roten Armee aufgebracht wurde, gilt heutzutage als Synonym für die industrielle Massenabschlachtung von Menschen. Juden, Roma und Sinti, Schwule, Dissidenten und was der damaligen deutschen Regierung im Wege war - ideologisch oder materiell spielt keine Rolle - verschwand dort und wurde in einem raffinierten System liquidiert und in den Krematorien verbrannt. Gerüchte, die mir zu Ohren gekommen sind, und die sich wohl belegen lassen, behaupten, dass die erfolgreiche Massenvernichtung von Menschen nicht bei diesen Menschen gestoppt hätte. Hitler, ein erklärter Verfechter der "Deutschland braucht Lebensraum und muss es den Untermenschen im Osten abnehmen"-Ideologie, hätte sicherlich für die dortige Bevölkerung, die ja auf zukünftigem deutschen Land siedelte, eine bewährte, schnelle industrielle Lösung gefunden: Auschwitz.
Aber zurück zum Thema. Besagter Nazi-Aktivist fährt nun nach Auschwitz. Bei strahlendem Sonnenschein besichtigt er die Gaskammern und stellt eine Behauptung auf, welche den anwesenden Menschen ins Herz fährt. Er sagt: "Zyklon-B hinterlässt aber Ablagerungen an den Wänden. Davon sehe ich hier nichts."
Diese wenigen Worte reichen erstens, um ihn als Leugner des Holocausts zu identifizieren (nebenbei als Feigling, das ist aber meine persönliche Meinung), und zweitens, um die Menschen zu entsetzen. Sie sind in der wirklich unangenehmen Lage, zwar die historischen Zusammenhänge zu kennen - Auschwitz, Gaskammer, Zyklon-B, Krematorien - die von russischen und auch westlichen Kamerateams wieder und wieder protokolliert wurden, aber ihnen fehlt selbstverständlich ein Detailwissen. Hinterlässt Zyklon-B wirklich Ablagerungen an den Wänden? Und sind diese nach fünfzig Jahren noch zu sehen? Vor allem bei Gebäuden, deren Türen und Fenster schon vor Jahren ausgebaut wurden, also deren Innenräume Wind und Wetter jederzeit ausgeliefert sind? Sie können es nicht wissen, und ich habe auch nicht versucht zu recherchieren, ob der Mann Recht hatte. Wozu auch, die Beweise für die rücksichtslose Massenvernichtung von Menschen sind auch so überreich vorhanden, auch ohne dass sich Zyklon-B-Rückstände an den Wänden erhalten haben. Aber in diesem Moment hatte er mit einem ausweichendem, nicht sofort widerlegbaren Argument die Menschen im Griff, fassungslos. Nicht unbedingt davon überzeugt, dass der Holocaust gar nicht stattgefunden hat, aber erschrocken und mit einem eher unwichtigen Detail an die Wand gestellt. Denn dies ist eine Behauptung, die auch ein Fremdenführer nicht so ohne weiteres hätte widerlegen können.
Vielleicht ist es etwas hart, eine Geschichte über Kreationisten mit der über einen Nazi, der den Holocaust leugnet, zu vergleichen. Aber mir geht es nicht unbedingt um die Themen an sich, mehr um die Perfidität des Missbrauchs eines Details. Darin waren sich beide Argumentationen gleich. Und auch in einem anderen Aspekt gleichen sie sich und lohnen sich, bis zum Letzten bekämpft zu werden: In beiden Fällen sollte Wissen durch glauben ersetzt werden. Und das kann ich nicht zulassen.
Die Lehre für mich und für uns alle? Einfach. Solltet Ihr jemals in einer Diskussion, einer Situation oder in einem Hinterhalt einem solchen ungerechten und mit unfairen Mitteln geführten Hieb durch ein Argument ausgesetzt sein, das Teile Eures säkularen Weltbilds zerstören soll, und könnt Ihr es nicht widerlegen, dann heißt die Devise: Argument notieren, verabschieden und nach erfolgreicher Recherche zurückschlagen.
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