Es ist etwas her, dass ich politisch gebloggt habe; zu meinem Missfallen musste ich merken, dass ich mich eher auf Twitter oder Facebook äußere und mein blogfähiges Material nach dem Posten nicht weiterverwerte. Egal, ob es um meine Recherchen zum Thema Nestlé geht (nein, Nestlé ist nicht der Verursacher irgendwelcher imaginären Wasserverknappungen in Vittel. Nicht, solange die Wassermarke Vittel 850.000 Kubikmeter Wasser abpumpt, die Groß-Käserei nebenan aber AUCH 650.000 Kubikmeter, aber außer mir recherchiert das ja wieder keiner...), zum Thema Glyphosat, Menschenrechte, anthropologische Forschung, zum Thema Organspende, und, und, und... Das hätte ich zu meiner Profilierung auch alles hier noch mal posten können. Die Schuld hat meine Faulheit. Damnit.
Ich werde das in Zukunft anders handhaben.
Aber zum Titelthema. Da geisterte doch durch die Medien, dass Seehofer Horst, genau, der mit dem Innenministerium für Heimkrampf, lautstark rumkrakeelte, er hätte doch Recht gehabt und Flüchtlinge seien die "Mutter aller Probleme" im Land.
Also, abgesehen davon, dass sich Seehofer Horst der Rhetorik Saddam Husseins bedient hat, ist die Aussage ohnehin großer Quatsch, denn sie bezieht sich auf die R&V-Studie zum Thema Ängste.
Tibor Pésza, in der Leine Deister Zeitung und den anderen Zeitungen des Dirk Ippen-Verbunds zuständig für Politik, hat auch für Freitag prompt ein Essay vom Stapel gelassen, dass dem Seehofer Horst und den Angstbürgern der Republik verbal zur Seite springt und die "Ängste der Deutschen" verteidigt.
Aber ist das vielleicht sogar richtig? Lasse ich mich vielleicht von Pézsas' neoliberaler Einzelsicht ärgern und hacke wie gewohnt auf Horst rum, nur weil er früher im Jahr ausschließlich populistischen Mist von sich gegeben hat?
Ich will der Sache nachgehen.
Zuerst einmal haben mir weder Seehofers Aussage noch die von Herrn Pézsa gefallen, das muss ich zugeben, das muss ich mir eingestehen.
Ersterer fabuliert davon, wie recht er doch gehabt hätte und alle anderen unrecht; Herr Pézsa pamphletisiert unter dem Titel "Starker Staat gesucht" über die historische Rolle Deutschlands als Ort und als politisches Gewicht, um plötzlich zu schreiben: "Natürlich war Angst noch nie ein guter Ratgeber. Aber die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft täten gut daran, die Befindlichkeiten sehr genau zur Kenntnis zu nehmen. [...]Anders ist es mit der großen Angst der Deutschen, Staat und Politik seien von Zuwanderung und Integration überfordert. Gerade hier wünschen sich zwei Drittel der Deutschen einen durchsetzungsfähigen, konsequenten Staat. [...]"
Also, genau daran reibe ich mich, das regt mich auf. Sowohl der grauhaarige Bayer als der Drewes-Platzhalter Pézsa schreiben sich da blanken Unsinn zusammen. Während Horst es direkt ausdrückt (Ihr wart alle gemein zu mir, dabei wollen mich alle zum Bundeskanzler wählen), tüddelt Pésza teils drumherum, und dann mittendurch. Ich teile keine dieser Aussagen und keine dieser politischen Ideen. Im Gegenteil halte ich sie auch noch für verzerrt und falsch. Für sehr falsch. Warum?
Nun, einerseits ist es das erste Mal in diesem Jahr, dass Ängste vor Zuwanderung so weit oben gesehen werden, wenn eine Umfrage oder eine Studie veröffentlich wurden. Alle anderen sprachen immer eher davon, dass den Umfrageteilnehmern der Hype um das Thema auf die Eier geht und sie es nicht für wichtiger als z.B. bezahlbaren Wohnraum, Rente oder mehr Geld für finanziell Schwache halten. Das erstaunt natürlich, wenn dann eine Studie das Gegenteil behauptet. Nicht erstaunt einen dann aber, dass sich Horst drauf stürzt wie ein Geier, um die "Ich habe Recht"-Platte abzuspielen.
Aber werfen wir doch mal einen Blick in die Fragen und Methoden der Studie der R&V: Die Ängse der Deutschen 2018, um zu schauen, wie sie arbeitet.
Unter Punkt drei der Studie ist veröffentlicht, wie viele Teilenher die Studie hatte: Repräsentative Stichprobe von 2.335 Personen im Alter ab 14 Jahren, davon 1.562 in West- und 773 in Ostdeutschland (disproportionale Stichprobenanlage); Grundgesamtheit:70,38 Millionen Personen der Wohnbevölkerung in Privathaushalten (deutschsprachige Bevölkerung).
Unter Punkt fünf, Befragungstechnik, heißt es weiter: Strukturierte persönliche Interviews mit geschlossenen Fragen. Antworten auf einer Skala von 1 (gar keine Angst) bis 7 (sehr große Angst).
Unter Punkt sieben, Auswertung, wird gesagt: Zusammenfassung der Werte 5, 6 und 7 als „große Angst“.
...sacken lassen. Schätze, ICH liege wohl eher nicht falsch.
Ich sage jetzt mal nichs zur R&V. Die macht ihre Studie schon seit 1992 nach dem gleichen Muster und schreibt über ihre Umfrage: „Die Ängste der Deutschen“ ist die bundesweit einzige Umfrage, die sich
über einen Zeitraum von über 25 Jahren alljährlich mit den Sorgen der
Bevölkerung befasst. Bereits seit 1992 befragt das R+V-Infocenter
jährlich rund 2.400 Frauen und Männer im Alter ab 14 Jahren in der
Bundesrepublik Deutschland nach ihren größten politischen,
wirtschaftlichen, persönlichen und ökologischen Sorgen."
Dabei versucht sie, mit möglichst zielgenauen Stichproben ein möglichst genaues Bild zu erzielen und so eine Frage darauf zu bekommen, was uns Deutsche bewegt. Dass sowohl Seehofer Horst als auch Pézsa ausgerechnet diese Umfrage benutzen, um ihre Sicht der Dinge "zu untermauern", das aber ist anzukreiden. Nicht der R&V, wohl aber unserem Innenminister und dem Kolumnisten aus dem Haus Ippen.
Denn seien wir doch mal ehrlich:
1) Die Studie zielt auf 70 Millionen Menschen ab, deren Meinung man repräsentatieren will.
2) Punkt sieben zeigt, dass drei von sieben Aussagemöglichkeiten der Befragten als "große Angst" bewertet werden. Nicht als "ein wenig Angst" oder "mehr Angst", sondern als "große Angst", wo doch 4 eigentlich neutral sein müsste und es danach erst eine Steigerung geben sollte.
Sorry, aber den Part solltet Ihr noch mal überarbeiten oder die Ergebnisse entsprechend aufarbeiten statt mit einem schlichten Balken, der ein Ergebnis aus sieben Möglichkeiten repräsentieren soll. Ehrlich, liebe R&V, das verstehe ich nicht und das halte ich auch nicht für repräsentativ genug für so eine Aussage.
3) Last but not least wurden 2.335 interviewt (2.400 sollten es sein, oder? o_O), und diese ergeben, wenn man die Zielgruppe der Befragung in Betracht zieht, nämlich 70.380.000 in deutschsprachigen Haushalten lebenden Personen (richtig, nicht die 82.800.000, die laut Zeit.de derzeit in Deutschland leben), einen prozentualen Anteil an der Bevölkerung von 0,00332 (von mir gnädig aufgerundet) Prozent dieser Bevölkerungsgruppe. Egal, wie gut das Stichprobenteam der R%V ist, ICH als politischer Kolumnist, ICH als deutscher Innenminister, ICH als Mensch mit Ohr am Puls, der nicht von einer einzigen Umfrage gehört hat, die vor dieser ein ähnliches Ergebnis gebracht hat, hätte so eine, mit Verlaub, auf schwachen Füßen stehende Umfrage niemals als zitatfähige Quelle genommen. Ach, okay, streicht das. Beide haben ja gar nicht zitiert, sie haben lediglich den ihnen angenehmen Teil des Ergebnisses in ihrem Sinne interpretiert.
4) Okay, ich habe gerade festgestellt, dass ich mich nicht auf diese Umfrage stützen würde. Aber das eigentliche Schmankerl, das Euch Seehofer und Pézsa vorenthalten, will ich Euch eben nicht versagen. Die größte Angst der Deutschen ist nämlich - ich bitte um einen Tusch - nicht die Zuwanderung, sondern... Trump. Hier noch mal der Link.
Mein Fazit: Man muss schon sehr verzweifelt sein, wenn man sich allem an die Brust wirft, was auch nur entfernt die eigene Meinung bestätigen könnte, obwohl alle anderen das Gegenteil sagen. Von Seehofer habe ich das nicht anders erwartet, aber Sie, Herr Tibor Pézsa, Sie sind doch ein Profi. So ein Fehlgriff muss doch nun wirklich nicht sein.
Also, ich habe mich vollkommen zu Recht geärgert.
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