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Donnerstag, 25. August 2016

Der Nachdenkblogpost: Aus den Bantelner Chroniken 1

Leider ist es so. Das Thema Ausländer/Migranten - ja, manche setzen das tatsächlich als gleich voraus - ist noch immer nicht ausdiskutiert. Und das ist nicht nur peinlich, es ist lächerlich angesichts der Aufgabe, vor der wir stehen. Sie ist nichts im Gegensatz, was vorige Generationen geleistet haben. Sie ist auch nichts gegen Not und Leid der Menschen, die einer besseren Zukunft willen Leib und Leben aufs Spiel setzen. "Sie hätten ja gar nicht erst fliehen müssen, dann ginge es ihnen gut." "Die sind nur zu feige zum kämpfen." "Die sind mit unserer Kultur inkompatibel und rasieren sich in der Toilette." Ups, sorry. Bei diesen Beispielsprüchen über abfällige Bemerkungen zum Thema Kriegsflüchtlinge ist mir doch tatsächlich ein Fehler unterlaufen. Die letzte Bemerkung richtet sich nicht gegen Eritreer, nicht gegen Afghanen, nicht gegen Syrer, auch nicht gegen Albanier oder Kongolesen, die aus welchen Gründen auch immer ihre Heimat verlassen haben, sie richtet sich gegen Russlanddeutsche, die nach Deutschland emigrieren.
Wortwörtlich lautet das Zitat über deutschstämmige Russen aus den Achtzigern, die nach Deutschland emigriert sind: "Die wissen ja noch nicht mal, was eine Toilette ist, geschweige denn ein Waschbecken. Die Männer rasieren sich in der Toilette, die Kinder werden im Waschbecken gebadet, und gekackt wird vor der Halle in die Büsche."
Aber gut, dass Vorurteile und Abwertungen jederzeit recycled werden können. Gut für jedwelche hetzerischen rechten Gruppierungen, die auf die abendländischen Grundwerte scheißen, die da wären Nächstenliebe, Nächstenhilfe und christliches Benehmen im Allgemeinen. Aber wenn schon der Seehofer-Horst von der CHISTLICH Sozialen Union christliche Grundwerte in der Pfeife raucht, dann steht es schlimm ums Abendland.

Um das Thema einmal von einer anderen Seite zu beleuchten, möchte ich mir heute die Mühe machen, und ein paar Zeilen aus den Bantelner Chroniken abtippen. Diese fünfteilige Serie wurde Mitte der Achtziger geschrieben und beleuchtet verschiedene Aspekte der Bantelner Geschichte. Band Nummer drei besonders das letzte Kriegsjahr und das erste Nachkriegsjahr mit den Flüchtlingswellen nicht nur von Ost nach West.
Was will ich damit erreichen? Vielleicht, dass man innehält und begreift, was Krieg eigentlich ist, was Krieg anrichtet, und was Krieg mit den Menschen tut. Und was Menschen den Menschen tun. Das ist unsere Geschichte, in diesem speziellen Fall die Geschichte meines Heimatortes. Mich hat sie immer nachdenklich gestimmt, und weil ich die Chroniken gelesen habe, war ich immer dankbar für über siebzig Friedensjahre im Herzen Europas und die Tatsache, dass wir als Bundesrepublik seit 1990 "nur von Freunden" umgeben sind.

Ich beginne mit einem Zitat, und wenn es Anklang findet, werde ich weitere Passagen posten.
Selbstverständlich nenne ich Autor und Daten; da ich allerdings bezweifle, dass die Chroniken noch erhältlich sind, frage ich dreisterweise vorher nicht um Erlaubnis und hoffe, Autoren und Rechte-Inhaber verzeihen es mir der guten Sache wegen.

Ich zitiere heute aus der Chronik Nr. 3, damals verkauft von der Volksbank im Ort mit dem Namen: "Banteln und Bantelner zwischen Krieg und Frieden - Ereignisse und Erlebnisse um 1945/46"
Verantwortlich für die Veröffentlichung, Texte und Gestaltung der Chronik Nr. 3 aus dem Jahr 1987 ist der Arbeitskreis für Ortsheimatpflege Banteln. Damals namentlich I. Witvogel, S. Willmann, S. Greber, H. Lammers, H.-H. Pachnicke und D. Preuß.

Ich beginne auf Seite 24 bis 26, quasi nach "der Action", weil dies die Passage ist, die mir auch jetzt noch nach einen Vierteljahrhundert noch gut im Gedächtnis ist.

Zitat:
"Nicht immer ging die Eingliederung der neuen Bantelner Bürger glatt, nicht immer ging alles freiwillig, aber es überwiegt die Meinung, dass man sich gegenseitig half. So erinnern sich heute noch unsere Mitbürger, die damals zu uns kamen, dass selbst Messer, Gabel und Teller "geteilt" wurden und dass auch Menschen, die selbst nur wenig hatten, Flüchtlingen und Vertriebenen abgaben, die oft nicht einmal mehr das Notwendigste besaßen.

Während damals viele Ausgebombte und Flüchtlinge in Banteln einen neuen Anfang fanden, waren zur selben Zeit Hunderttausende aus allen Gegenden Deutschlands und darüber hinaus auf den Straßen unterwegs - und das trotz unsicherster Verhältnisse, trotz Sperrstunden, Kontrollen und Verboten. Auf den Landstraßen entwickelte sich nach dem Einmarsch der alliierten Streitkräfte eine regelrechte Völkerwanderung: Viele Menschen trotteten dahin, die der Krieg aus ihrer Heimat vertrieben hatte und die nun zurück wollten nach Hause, andere, die nach ihren Angehörigen suchten, entlassene deutsche Soldaten, die in den zerstörten Häusern der Städte niemanden mehr vorgefunden hatten. Kinder, die man wegen der Bombengefahr aus ihren Elternhäusern in den gefährdeten Großstädten weggeholt und in Sammelläger oder Kinderheime in weniger bedrohte Landstriche gebracht hatte, suchten den Weg nach Hause und zu ihren Eltern. Ehemalige deutsche Soldaten schlugen sich durch, weil sie nicht mehr in Gefangenschaft geraten wollten. Sie besorgten sich irgendwo Zivilkleidung, kamen hier an und baten bei den Bauern um ein Quartier für die Nacht.
Mancher gab ihnen einen versteckten Schlafplatz im Stall oder Scheune, wo sie für die Nacht vor den Siegern sicher waren. Da kamen auch verwundete oder kranke deutsche Soldaten, die sich mit letzter Kraft von Dorf zu Dorf weiterschleppten. Sie wurden von den Lazaretten entlassen, wollten nach Hause. Manche hatten Angst, den Sowjets in die Hände zu fallen. Sie alle wanderten Tage und Wochen, halb verhungert, auf der Landstraße, kurzum unzählige Menschen jeden Alters, einzeln, in kleinen Gruppen, auch ganze Familien.
Alles ging zu Fuß, oft waren die wenigen geretteten Habseligkeiten auf Handwagen, Kinderwagen oder selbst gebastelten Karren gepackt.
Eisenbahnzüge fuhren nicht; Autos bekamen weder Treibstoff noch Fahrgenehmigungen der Militärbehörde; - und erst Monate später durften Lastwagen - nur zum Transport lebenswichtiger Güter - wieder fahren.


Auch Banteln erlebte das mit, zumal die Reichsstraße (heute Bundesstraße 3) damals noch direkt durch den Ort führte. (heute Göttinger Straße). Als erschütterndes Beispiel wird ein Ehepaar erwähnt, beide sicher weit über siebzig Jahre alt. Der Mann zog auf dem alten, klapprigen Handwagen seine kleine Frau, sie saß rücklings und hütete noch ein paar Habseligkeiten. Sie wollten nach Bremen zurück, wo sie früher gewohnt hatten.

Die inzwischen verstorbene Bauersfrau Mimmi Hunsrügge berichtete, dass sie im Frühjahr und Sommer 1945 Abend für Abend am Herd stand und für solche erschöpften Menschen Pellkartoffeln (für die Kinder Milchsuppe) kochte. Weil ihr Bauernhof nahe der Reichsstraße lag, suchten viele dort ein Unterkommen für die Nacht, denn nach 18 Uhr war Ausgangssperre; da mussten sie von der Straße verschwunden sein. In Hunsrügges Scheune oder auf dem Strohboden fanden viele dieser Armen ein Nachtlager. Am anderen Morgen bekamen sie noch eine Tasse "Kaffee" aus gebrannten Roggen- oder Gerstenkörnern und eine Scheibe Brot mit Rübensaft; dann zogen sie weiter. Der damalige Mühlendirektor Heinrich Saucke stellte für diese Hilfe verbotenerweise ab und an einen Sack Mehl  zur Verfügung, aus dem dann der Bäckermeister Hartmann Brot backte. Jeder "Durchreisende" wurde von Frau Hunsrügge gebeten, in einem alten Heft seinen Namen und sein Woher und Wohin niederzuschreiben. Dieses "Gästebuch" ist ein erschütterndes Dokument über die Not jener Zeit. Über 200 Menschen aus vielen Gegenden Deutschlands und einiger Nachbarländer trugen sich hier ein. [...]"

...sacken lassen.
Ich weiß, wer jetzt nicht beeindruckt und nachdenklich ist, dem ist auch nicht mehr zu helfen, aber ich möchte gerne meine Gedanken zusammenfassen, die ich damals vor fünfundzwanzig Jahren hatte und die ich auch beim Abtippen und erneuten Lesen wieder so habe.
Damals lag Deutschland am Boden. Es mag sein, dass der eine oder andere mehr hatte als der Rest, aber viele hatten nichts und noch weniger. Dennoch wurde selbst jenen, die sich der Kontrolle durch das Militär entzogen, geholfen, mit kleinen wie großen Dingen. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die anschließende Militärregierung, die bis 1949 so fortfuhr, bevor sich erst die einzelnen Länder und dann die beiden Deutschlands wieder selbst regieren durften, waren strenge Zäsuren, eine große Belastung und auch der Tod für Zehntausende Deutsche, lange nachdem offiziell der Frieden ausgerufen war. Das Land war beschädigt, viele Menschen tot, versehrt, fürs Leben gezeichnet und hatten Angehörige verloren, an der Front, bei den Bombardements, und vergessen wir nicht, wer den Krieg beschlossen, geplant und auf dem Rücken der deutschen Bevölkerung ausgeführt hat, nicht nur, weil die begeistert mitgemacht hat, sondern weil eine schweigende Gruppe viel zu oft viel zu leise war...
Es gab summa summarum nicht viel, und dennoch versuchten die Menschen, versuchte Banteln, diese Aufgabe zu stemmen. So wuchs die Bevölkerung in meinem Dorf nach dem Krieg auf das Doppelte an, im verzweifelten Versuch, so viel wie möglich zu schaffen. Mein Respekt gilt diesen Menschen, jenen, die überlebt haben auf ihren langen Märschen, jenen, die geholfen haben, egal, ob sie wollten oder mussten, jenen, die, und sollte es nur ein einziges Mal gewesen sein, das Richtige taten, als es getan werden musste.

...sacken lassen.
Schauen wir uns jetzt die Gegenwart an. Etwas weniger als eine Million Flüchtlinge soll 2015 ins Land gekommen sein, wurden durch die Auffanglager gereicht und dann auf die Kommunen aufgeteilt. Ängste und Befürchtungen erwiesen sich oft genug als Schattengespenster, aus Angst, Agitation oder Unwissenheit geboren. Mancherorts erwiesen sich diese Notunterkünfte als Wirtschaftsfaktor, und das, was an Weltuntergang und Verbrechenswellen herbeigebetet wurde, traf nicht einmal annähernd ein, wenngleich ich nicht schreiben darf und nicht schreiben werde, dass es "nichts" gegeben hätte. Wie wäre das auch möglich? Es handelt sich um Menschen, die in unser Land gekommen sind. Warum sollten sie besser und ehrlicher sein als wir selbst?
Eine Million Menschen, in einem einzigen Jahr. Und was bleibt davon? Bis auf die ehrenamtlichen Helfer, die sich engagieren, den Hilfsorganisationen, die beauftragt wurden und ab und an einer unfreiwilligen Begegnung auf der Straße oder im Supermarkt gibt es keine "unerwünschten" Berührungspunkte zwischen Flüchtlingen und Deutschen. Oder Verbrechenswellen. Kriminalität ist auch 2016 fest in deutscher Hand. Das hindert aber einschlägige Parteien, Verbände und die CSU nicht daran, politisch negativ Stellung zu beziehen.

Ich deute auf den obigen Text, zeige auf, wie in meinem Heimatort geholfen wurde, als fremde Menschen aus fremden Teilen Deutschlands, aus weit entfernten Städten und Dörfern dahin zogen, und denen mit nur wenig geholfen wurde, aber es wurde ihnen geholfen... Ich zeige dahin und frage: Reicht es zu sagen: "Ja, aber das waren doch alles Deutsche!" Nein, natürlich reicht es nicht. Das, was übrig war, war begrenzt, und wer zusätzlich daher kam, reduzierte das, was da war, noch mehr. Das ging nicht immer glimpflich ab, und es passte auch nicht immer, aber irgendwie rauften sich unsere Vorfahren zusammen. Hier, in Banteln, in den umliegenden Orten, überall in Deutschland. Sie machten Platz für Menschen, die weniger bis gar nichts mehr hatten. Und heute?
Heute muss niemand mit Migranten zu tun haben, der dies nicht möchte. Verzeihung, Flüchtlingen. Dennoch grassieren Vorurteile, Voreingenommenheiten und dümmliche Parolen.
Ich erinnere mich, einer extrem Vorurteilsbelasteten Frau gesagt zu haben: "Geben Sie den Flüchtlingen doch erst mal die CHANCE, sich daneben zu benehmen!" Darauf erhielt ich keine Erwiderung.

Damals standen unsere Vorfahren vor einer sehr schweren Aufgabe, die erforderte, dass sie einen Teil ihres Wohlstandes, der nach dem Krieg eh knapp war, hergaben und mit Menschen teilten, die im Pass Deutsche waren, aber aus dem Sudetenland kamen, aus Pommern, als Schlesien, aus Ostpreußen und ihre eigene Meinung, ihre eigene Lebensart und ihre eigene Kultur hatten.
Heute ist alles, was wir tun müssen, ein wenig wohlwollend zu sein, Fremden eine Chance zu geben, damit sie ihre Leben wieder neu aufbauen können, damit sie leben können, damit ihre Familien nach einem schrecklichen Schicksal wieder ein lebenswertes Leben haben können. Das kostet den Einzelnen nichts, ist christlich-abendländisch, aber für viele doch schon wieder viel zu viel.
Die Bantelner von 1945 hätten für diese heutigen Deutschen kein Verständnis.

2 Kommentare:

Sparrow hat gesagt…

Ich sehe, ich war schon zu lange nicht mehr auf deinem Blog.
Die Eindrücke aus Banteln sind immer sehr interessant.

Ace Kaiser hat gesagt…

Es ist ja kein Zwang, bei mir vorbeizusurfen. ^^

Allerdings habe ich in letzter Zeit auch nur wenig geschrieben, also ist das verständlich.
Es ist ein interessanter Ort. Nicht perfekt, nicht vollkommen friedlich, aber er ist interessant.